KARL V. WESTERHOLT    Fotografie, Texte - künstlerische Arbeit                                                                    Einleitung  <  Die Welt in Auszügen, Teil II  <  Home 


graue Linie


"Man hat als Betrachter das Gefühl, sich entscheiden zu müssen, ob man die Gegenstände zum ersten oder zum letzten Mal sieht."
Christoph D. Brumme, Schriftsteller


DIE WELT IN AUSZÜGEN, TEIL II - das sind 18 Schwarzweissaufnahmen ganz gewöhnlicher Alltagsgegenstände. Bereits diese Formulierung klingt unzutreffend in meinen Ohren – obwohl sie richtig ist. Ich würde lieber sagen: Die Arbeit besteht aus 18 ganz gewöhnlichen Alltagsgegenständen. Aus den Gegenständen selbst. So kommt es mir vor. Dies nur als kleiner inhaltlicher Hinweis aus aktuellem Anlass.
 
Die Bilder sind Negative. Es sind helle Gegenstände vor schwarzen Hintergrund, fotografiert mit einer 13 x 18 cm Großformatkamera direkt auf Fotopapier – und auf gewöhnliches Filmmaterial, welches, auf einen orthochromatischen Halbtonfilm umkopiert, den Vergrößerungen als Vorlage diente. Das sieht man jedoch alles nicht. Wenn man es sehen würde – dessen bin ich mir sicher – wäre die Arbeit misslungen. Die Bilder werden als Positive wahrgenommen, ungeachtet auch der Beteuerungen ihres Autors. Die Verfremdung, obgleich krass, tritt nicht als Thema in Erscheinung und bleibt damit dem suggestiven Potential der Bilder erhalten. Soweit meine Theorie.

Die Arbeit existiert in vier verschiedenen Versionen: als Serie kleinformatiger Direktbelichtungen, als Tableau, in dem 18 Direktbelichtungen zu einem Bild zusammengefasst sind, als Künstlerbuch, bestehend aus 17 Bildern und 10 Texten diffusen Inhalts, und als Serie großformatiger, in tiefen Holzrahmen präsentierter Fotografien.

"DIE WELT IN AUSZÜGEN, TEIL II ist meine Abschlussarbeit bei Professor Jürgen Klauke an der Universität GHS Essen, meine Diplomarbeit im Fach Kommunikationsdesign, um ganz ehrlich zu sein. Ich habe damals eine umfangreiche theoretische Abhandlung über diese Arbeit verfaßt. Der Studienplan verlangte das. Ich möchte einige Passagen daraus zitieren:

"DIE WELT IN AUSZÜGEN, TEIL II thematisiert meine Vorstellung, dass Alltagsgegenstände uns und unserem Leben gegenüber von geradezu obszönem Gleichmut sind. Obszön möchte ich diesen Gleichmut nennen, weil er, aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet, unsere Existenz beleidigt. All diese Gegenstände begleiten uns ein Leben lang, egal was passiert. Es geschieht keine menschliche Tragödie, ohne dass einer dieser Gegenstände nicht Zeuge wäre. Stumm beobachten sie unser ewiges Scheitern, unseren langsamen Niedergang zwischen Geburt und Tod. Und sie greifen nicht ein. Sie helfen uns nicht und schämen sich nicht unserer. Sie loben oder tadeln, sie ermutigen, verwerfen oder bedauern uns nicht. Sie nehmen schlicht keine Notiz von unserer Existenz. Sie stehen nur da und gemahnen uns wortlos der ganzen Eitelkeit unserer Daseins, der Sinnlosigkeit unseres Strebens. Wenn sie einen Arsch hätten, würden wir ihnen mit Sicherheit daran vorbeigehen. Aber sie haben natürlich keinen Arsch. Nein, sie nicht! Sie haben so etwas nicht nötig!
Tag für Tag hadert der Mensch mit seinem Schicksal, ringt mit der Frage nach dem Sinn seines Lebens. Und während er solches tut, steht womöglich direkt neben ihm irgendein blöder Putzeimer und beobachtet seinen Kampf. Der Putzeimer hat eine klare Bestimmung. Am Sinn seiner Existenz kann kein Zweifel bestehen. Und das spüren wir in unserer Verzweiflung genau. Wir spüren diesen Umstand und erkennen darin die stille Überlegenheit des Putzeimers. Und diese Überlegenheit macht uns fertig. Sie führt uns die Eitelkeit und Vergänglichkeit unseres Wesens, unseres Strebens und aller unserer Errungenschaften kristallklar vor Augen. Die Gegenwart des Putzeimers, alleine schon seine bloße Existenz ist eine Verhöhnung der Tragödie des menschlichen Daseins.

(...)

Ich hoffe, mir nicht den Vorwurf zuzuziehen, ein wehleidiger Romantiker zu sein, wenn ich behaupte, dass es genaugenommen zynisch ist, eine Scheuerbürste zu fotografieren, während irgendwo auf der Welt Kinder vor Hunger sterben. Ich weiß, das ist eine heikle Angelegenheit. Die Feststellung gilt gemeinhin als romantisch, naiv und abgeschmackt. Leider. Aber die Tatsache bleibt dennoch bestehen. Ich bin ja schließlich nicht in einem bezugslosen Raum aufgewachsen. Wenn dem so wäre, müsste man meine Arbeit als reines Fantasieprodukt betrachten, und in diesem Fall, würde sie sicherlich nicht als zynisch angesehen werden können.

Alles, was auf der Welt geschieht, hat etwas mit meiner Arbeit zu tun. Ich rede hier nicht von der Utopie eines globalen Gewissens, sondern von einem einfachen Tatbestand, von dem faktischen Zusammenhang, der zwischen meiner Arbeit und dem Hungertod von ich-weiß-nicht-wie-vielen-Kindern-pro-Minute auf dieser Welt tatsächlich besteht – nur weil es zwei materielle Erscheinungen des gleichen Bezugssystems sind. Natürlich ist es zynisch, einer Scheuerbürste besondere Beachtung zu schenken, wenn derweil irgendwo auf der Welt Kinder verhungern. Und ob! Genaugenommen ist natürlich das gesamte Leben in den wohlhabenden Industriestaaten ein Zynismus. Aber eben nur, solange es diesen krassen Widerspruch zwischen Wohlstand und einer Kultur des Wohlstandes einerseits und bittersten existentiellen Nöten andererseits gibt. Meine Arbeit lebt unter anderem von diesem Widerspruch. Ihr zynischer Charakter wird nur auf dem Hintergrund dieses Widerspruchs verständlich, kann überhaupt nur auf diesem Hintergrund entstehen. Ohne verhungernde Kinder würden meine Bilder keinen Sinn ergeben oder eine vollkommen andere Bedeutung haben. Vielleicht könnte man sogar die Behauptung wagen, dass niemand auf den Gedanken kommen würde, solche Bilder zu machen, wenn auf dieser Welt keine Kinder verhungerten. Damit meine ich nicht, daß meine Bilder irgendeine Ungerechtigkeit anprangern oder auch nur thematisieren. Nicht im entferntesten! Ich behaupte lediglich, dass die Bedeutung dieser übertriebenen Aufmerksamkeit für triviale Gegenstände nur auf dem Hintergrund des perversen Zustandes unserer Welt verständlich und plausibel wird, nur vor diesem Hintergrund einen Sinn bekommt.

Ich möchte an dieser Stelle noch etwas zu meiner Entlastung hinzufügen. Ich habe gesagt, dass die Beschäftigung mit bedeutungslosen Alltagsgegenständen angesichts des Elends der Welt als zynisch betrachtet werden kann. Aber das ist natürlich nicht alles. Das trifft noch nicht das Wesen meiner Arbeit. Genaugenommen versuche ich nämlich diesen Aspekt, diese zynische Sichtweise, zu kultivieren. Darum geht es! Ich bin nicht nur so verdorben, die Scheuerbürste überhaupt zu fotografieren, nein, ich behandle sie zu allem Überfluß auch noch so, als sei sie etwas ganz besonders Bedeutungsvolles, etwas Wichtiges, etwas, dem man unbedingt Beachtung schenken sollte – wie einem verhungernden Kind. Ich betone also den zynischen Charakterzug meiner Arbeit. Jetzt könnte man natürlich behaupten, das sei erst recht zynisch, aber genau betrachtet ist das Gegenteil der Fall. Der Zynismus nämlich, solcherart betont, wird zum Thema meiner Arbeit. Er verschwindet aus meiner Arbeit und tritt als Inhalt wieder in Erscheinung. Soviel zu meiner Entlastung.

(...)

Vor einigen Tagen war mein überaus geschätzter Freund Frank H. Richter zu Besuch bei mir. Wir machten uns gemeinsam daran, ein wenig an der Reihenfolge für die großen Bilder zu arbeiten. Nach einer Weile ergab sich ganz zufällig eine Konstellation, bei der die Abbildung des Tortenbries den genauen Mittelpunkt der Reihung bildete. Frank bemerkte es und begann zu lachen, und auf meine Frage, was es denn darüber zu lachen gäbe, sagte er, er fände es witzig. Zu seiner Entschuldigung möchte ich anmerken, dass er für gewöhnlich um mehr Präzision bemüht ist.

Aber wieso hat er gelacht? Was ist so witzig an dem Gedanken, dass das Bild eines Stücks Tortenbrie den Mittelpunkt meiner Reihung bildet? Wahrscheinlich, weil es ganz besonders banal erscheint. Aber das alleine reicht nicht. Es geht um die Aufmerksamkeit, die ich meinen Gegenständen schenke, um den Widerspruch zwischen ihrer Trivialität und der besonderen Achtung, die ich ihnen mit allen Mitteln der Bildsprache, übrigens auch mit den Mitteln der Bildpräsentation, zu erweisen scheine. Um ehrlich zu sein, beschleicht mich der Eindruck, meine Bilder enthielten möglicherweise die Karikatur einer religiösen, einer auf Gegenstände der Anbetung und Verehrung gerichteter Sicht, vielleicht eine Karikatur der christlichen Bildsprache. Dies ist freilich eine gewagte Behauptung, die schlüssig zu beweisen meine Fähigkeiten übersteigt, aber ich möchte sie dennoch kurz besprechen.
 
Ich habe die Gegenstände ein wenig wie Ikonen fotografiert. Ich wollte, dass sie Ikonen seien, dass sie zum Anbeten einladen. Ich wollte eigentlich gar keine Fotos von den Gegenständen machen. Ich wollte, dass die Gegenstände sich selber abbildeten, dass die Bilder ein Abdruck der Gegenstände seien, der einzelne Gegenstand hinter seinem Abbild verschwände. Ich wollte die Gegenstände so abbilden, als ob ich etwas von ihnen erwartete – viel, alles von ihnen erwartete – als ob sie eine okkulte Macht besäßen. Gleichzeitig sollten die Gegenstände jedoch nicht erfüllen können, was bildsprachlich an Erwartungen in sie hineingelegt wurde. Ich habe einen Wassersprüher so fotografiert, als ob er eine verborgene Weisheit enthielte, als ob er einen Weg in die Zukunft weisen könnte, aber am Ende merkt der Betrachter, dass man ihn immer noch am besten zum Bügeln benutzt. Ich habe einen Widerspruch zu schaffen versucht, zwischen einer bestimmten Bildsprache und einem bestimmten Bildinhalt. Der Bildinhalt, der Gegenstand der Anschauung, straft die Bildsprache Lügen. Dieser Umstand verleiht meinen Bildern den Charakter von Karikaturen."


DIE WELT IN AUSZÜGEN, TEIL II
Über die Obszönität des Gleichmuts von Alltagsgegenständen
Einleitung
Bilder
Ausstellungsfotos
Technische Daten
Kommentare/Presse